Autor & Verleger
Tagblatt-Porträt
«Es gibt nichts Aktuelleres als die Antike»
Wie aus der Tagblatt-Kolumne von Hans Widmer ein Buch wurde
Am Anfang war die Idee: Warum nicht in einer periodisch erscheinenden Kolumne im Tagblatt in lockerer Form Latein und Antike vom Podest des Altphilologen in den Alltag der Leute tragen? Die Realisierung: In 33 Folgen erschienen im Rhythmus von zwei Wochen Kolumnen, die sich mit dem Werbelatein, dem EWR Latein, ehernen Grundsätzen des Römischen Rechts, geflügelten Worten und Prinzipien der Logik befassten. Die Reaktionen: Begeistert waren die Leserinnen und Leser, wollten immer mehr, forderten geradezu die Edition eines Buches, das die lateinischen Trouvaillen in bekömmlicher Form sammelte. Der Autor: Hans Widmer, Griechisch- und Lateinlehrer an der Alten Kantonsschule Aarau, seit 14 Jahren Bibersteiner Gemeinderat, Major, Altzofinger, Gründer und einziger Autor des Odysseus-Verlags.
Hans Widmer ist in diesen Tagen ein vielbeschäftigter Mensch: Nicht nur unterrichtet er sein Wochenpensum an der Alten Kanti, er ist vor allem auch als Verlagsleiter und Autor in eigener Sache unterwegs. Richtig: Der Kantilehrer führt von seinem Bibersteiner Domizil aus den neugegründeten Odysseus-Verlag, dessen bisher einziges Produkt das Buch »Lebendige Antike; Latein und antike Kultur für jedermann» ist. Die Subskription ist hervorragend angelaufen, das Buch verspricht ein Renner zu werden. Die Verlags-Mitarbeiter sind Widmers Frau Evi und die drei Söhne. Der Verlag besteht aus einem Gartentisch, der in die gute Stube verlegt wurde, einem alten Stuhl und einer Unzahl von Büchern. Public Relations, Korrespondenz und Versand bestimmen seit drei Monaten das Leben der Familie Widmer. Die Texte der Kolumne wurden in mühseliger Kleinarbeit redigiert, Umschlag, Satz, Grafiken, Layout und Gestaltung mussten organisiert werden, das Subskriptionsangebot und die zugehörige Werbekampagne wurden lanciert. In der kommenden Woche läuft der Verkauf in den Buchhandlungen an. In kürzester Zeit entstand ein Buch, das in professioneller Aufmachung Antworten gibt auf die brennenden Fragen «Warum ist unser Kopf ein Topf? Was hat die Apotheke mit dem Bottich gemeinsam? Wie kamen die Griechen auf das Atom?», wie auf der Umschlagrückseite zu erfahren ist.
Der Autor ist sich der mitschwingenden Ironie seines Unterfangens durchaus bewusst. «Tierischer Ernst in Bezug auf irgendeinen Gegenstand lässt sehr oft darauf schliessen, dass der Betreffende an der Wahrheit dessen, was er mit mitzuteilen gedenkt, selber zweifelt.» Dieses Zitat von Hatfield und der Ausspruch «Menschlichkeit ersetzt jeden Grad von Bildung, Bildung aber nicht die Menschlichkeit» von Schopenhauer bestimmen seine Einstellung zur Arbeit am Buch, die zwar wissenschaftlich in jeder Beziehung sauber ist, Leichtigkeit und augenzwinkernde Lockerheit im Umgang mit der Antike aber nie vermissen lässt. Widmer lässt sich nicht um der Originalität willen auf spekulative Fährnisse ein, der Leser soll «schmunzelnd ein Bewusstsein für die Aktualität der Antike erwerben». Die lateinische Sprache soll als Fundament unserer Kultur, als Wurzel von wissenschaftlicher Tätigkeit und alltäglicher Beschäftigung für die breite Bevölkerung wieder zugänglich gemacht werden. Das Bildungsfach Latein, unbescheiden als Schule des Denkens apostrophiert, soll ohne falschen Elitarismus einen natürliche Eingang in den Alltag finden. Hans Widmer stellt beispielsweise immer wieder fest, dass die aristotelische Logik in den Köpfen verankert ist, obwohl sie als solche nie gelernt wurde. Ähnlich verhält es sich mit lateinischen Wortbildungen, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch selbstverständliche Aufnahme gefunden haben. Der Bibersteiner Autor und Verlagsleiter will seine Leser unaufdringlich auf deren Verwurzelungen aufmerksam machen, die kulturelle Basis offenlegen, den Blick für die jahrtausendealte Entwicklung der Umgebung schärfen. Die Begeisterung ist Hans Widmer anzusehen, die zusätzliche Beanspruchung durch das (unbedenkliche) Doppelmandat Kantilehrer / Verlagsleiter ist eher Lust als Last. Und so hetzt er denn mit voller Befriedigung zwischen Griechisch-Vokabeln, PR-Aktionen, Fototerminen und Klausurkorrekturen hin und her. Wächst ihm die Sache doch einmal über den Kopf, besteigt er den Bibersteiner Hausberg, die Gisliflue. Die 352 Höhenmeter von seinem Haus aus bewältigt er im Laufschritt. Der Adrenalin-Stoss sorgt nach Widmers Erfahrung für klaren Kopf und gute Ideen, die unvermittelt in des Autors Kreativitäts-Reservoir, den Computer einfliessen. Es kommt vor, dass aus Gisliflue-Ideen ganze Bücher und Unternehmen werden.
"Aargauer Tagblatt", 22.11.1991, Balz Bruder